PROJEKT 2023/24 - Paradoxien des Schützens – TEILPROJEKTE

Wie schützt ein Stück Papier vor dem Trommelfeuer? Himmelsbriefe und die Paradoxien religiöser Schutzpraktiken im Ersten Weltkrieg

Theresa Müller

Als Reaktion auf die industrialisierte Kriegsführung im Ersten Weltkrieg wurden moderne technische Objekte zum Schutz des menschlichen Körpers entwickelt. Neben Stahlhelm, Panzerungen oder Gasmasken sollte auch ein anderer Gegenstand dem Schutz der Soldaten dienen, der allerdings nur aus Papier und Tinte bestand: der Himmelsbrief. Dieses handgeschriebene Amulett behauptete, von Gott persönlich geschrieben worden zu sein und versprach im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit allumfassenden Schutz vor sämtlichen Bedrohungen des Krieges. Dieses Schutzversprechen war an die Einhaltung bestimmter Verhaltensmaßregeln geknüpft, verbunden mit der Androhung grausamer Strafen, falls man diese Vorgaben nicht befolgte. Parallel dazu plädierten auch die christlichen Kirchen für die Einhaltung bestimmter Verhaltens- und Moralkodizes bei der Bewältigung des Kriegsalltags. Ziel des Projekts ist es, das konfliktreiche und widersprüchliche Verhältnis zwischen popular-religiösen Schutzpraktiken und kirchlich legitimiertem Heilsversprechen zu untersuchen.

Die Nutzung von Himmelsbriefen im Kriegskontext macht vielschichtige Paradoxien des Schützens sichtbar – sowohl auf diskursiver Ebene als auch im alltäglichen Leben der Zeitgenoss:innen. Obwohl die christlichen Kirchen den Gebrauch dieses Amuletts als »Aberglauben« diffamierten und obwohl bekannt war, dass viele Soldaten trotz eines Himmelsbriefs verwundet und getötet wurden, hielt sich der Glaube an die Wirkmacht des Amuletts unter deutschen Soldaten und Zivilist:innen beharrlich. Darüber hinaus erhoffte man sich von ähnlichen Handlungen und Objekten einen religiös begründeten Schutz, die im Gegensatz zu den Himmelsbriefen kirchlich legitimiert waren: Viele Soldaten trugen zu ihrer Absicherung Kreuze, kleine Skapuliere sowie Heiligenbilder und -medaillen bei sich.

Die Vorstellungen über die Legitimität religiöser Schutzpraktiken waren jedoch gegensätzlich: Einerseits gingen die Nutzer:innen davon aus, durch Himmelsbriefe persönlichen Schutz für sich und andere direkt von Gott zu erhalten. Deshalb interpretierten sie die Nutzung eines Himmelsbriefs und die Befolgung seiner Regeln als besonders gottesfürchtig und gläubig. Andererseits warnten die Gegner der Himmelsbriefe, insbesondere die evangelische Kirche, vor diesem ›falschen‹ Schutz. Sie stellten das Amulett als gefährlichen (katholischen) Aberglauben dar, der Menschen in Not nicht näher zu Gott, sondern direkt ins Verderben führe. Popularer und institutionalisierter Glaube standen sich rivalisierend gegenüber, waren aber auf symbolischer Ebene doch miteinander verwoben: Beide Strategien der Selbstversicherung beruhten auf einem absoluten Gottes- und Glaubensverständnis und beide Seiten waren überzeugt, dem »richtigen« Glauben anzuhängen. Himmelsbriefe wurden so zum Gegenstand der Aushandlung von Wahrheit und Deutungshoheit.

Dabei stellt sich die Frage, ob und wie im Ersten Weltkrieg ein religiös begründetes Schutzversprechen unter dem Deckmantel der Fürsorge dazu instrumentalisiert wurde, die Bevölkerung im Sinne kirchlicher und staatlicher Institutionen zu kontrollieren und zu disziplinieren.

 

 

Kontakt

ilss18@gmx.de

Forschungsprojekt »Paradoxien des Schützens«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2023/24
c/o Kunstgeschichtliches Seminar/ Institut für Empirische Kulturwissenschaft
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1 ESA W (Westflügel)
20146 Hamburg