PROJEKT 2021/22 - Widerspruch!? – TEILPROJEKTE

»Kein Widerspruch? Walter Hävernick und die Stagnation und Transformation in der Hamburger Volkskunde nach 1945«

Die »langen sechziger Jahre« in der Bundesrepublik waren geprägt von sozialen Spannungen, Reformbestrebungen und kollidierenden Wert- und Moralvorstellungen. Nicht nur in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht gelten sie als eine Zeit der Um- und Aufbrüche. Auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft hatten diese Jahre grundlegende Auswirkungen auf die Entwicklung und Neuausrichtung in vielen Fächern. Dies gilt insbesondere für die Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, die erst in den 1960er Jahren begannen, sich mit ihren Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus, mit problematischen personellen Kontinuitäten und inhaltlichen Widersprüchen auseinanderzusetzen.

Auch in einem kleinen Fach wie der Volkskunde verliefen Aufarbeitung und Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg nicht widerspruchsfrei. Das zeigt das Beispiel Walter Hävernicks (1905-1983), dessen wissenschaftliche Biographie und Arbeitsweise im Mittelpunkt dieses Teilprojekts steht. Als Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte und zugleich Ordinarius am Seminar für Deutsche Altertums- und Volkskunde der Universität Hamburg war Hävernick ein ausgesprochen umtriebiger und innovativer Akteur in dieser für das Fach so prägenden Zeit. Als überzeugter Vertreter einer modernen Großstadtvolkskunde räumte er der empirischen Stadtforschung ebenso wie der konsequenten Gegenwartsanalyse einen festen Platz in der deutschen Nachkriegs-Volkskunde ein. Mit der Verbindung von qualitativen und quantitativen Arbeitsweisen modernisierte er das Methodenrepertoire im Fach. Ebenso zukunftsweisend war der Einsatz modernster Tonaufnahmetechnik, mit der er die Arbeit im Museum revolutionierte und auch in Lehre und Forschung neue Akzente setzte.

Allerdings ist Walter Hävernick weniger aufgrund seiner fachlichen und technischen Innovationen in Erinnerung geblieben. Vielmehr ist sein Name bis heute untrennbar mit seiner 1964 erschienenen Studie »Schläge als Strafe«. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht verknüpft, die seinerzeit auch über die akademischen Kreise hinaus heftige Reaktionen auslöste. Seine darin vertretene Ansicht, dass die körperliche Bestrafung von Kindern und Jugendlichen eine sinnvolle und angemessene Erziehungsmaßnahme sei, stand im klaren Gegensatz zu den Ideen einer modernen Pädagogik. Diese Widersprüche zwischen Modernisierungsbestrebungen und einer autoritär-konservativen Haltung zeigten sich auch in anderen Bereichen seines Schaffens. So lehnte er die in den 1960er Jahren zunehmend geforderte demokratische Mitbestimmung an der Universität vehement ab und verweigerte demonstrativ seine Teilhabe an der Neupositionierung der Disziplin Volkskunde an europäischen Universitäten. Außerdem favorisierte er noch bis in die 1970er Jahre Fachliteratur aus der Zeit des Nationalsozialismus und plädierte für Latein als Wissenschaftssprache.

Ausgehend von Walter Hävernicks wissenschaftlichem Nachlass analysiert das Teilprojekt dieses scheinbar paradoxe Verhältnis zwischen Innovationsbestrebungen und konservativen Überzeugungen. Untersucht werden soll auch, welche Strategien er in seinen Selbstpositionierungen entwickelte, um diese nach außen hin offensichtlichen Widersprüche für sich aufzuheben. Dabei sollen – vermeintliche – Inkompatibilitäten in den Blick genommen und erörtert werden, wie und wo diese sichtbar wurden, welche Reaktionen und Gegenreaktionen sie hervorriefen und wo sie möglicherweise zu konkreten Konflikten führten.

 

Kontakt

ilss2022@protonmail.com

Forschungsprojekt »Widersprüche«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2021/22
c/o Kunstgeschichtliches Seminar
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg