PROJEKT 2020/21 – (In)Stabilitäten – TEILPROJEKTE

»Ponderation. (In)Stabilität als mediales Grundmotiv von Skulptur und Plastik«

Der Ausdruck ›Ponderation‹ geht auf das lateinischen Verb ponderare (abwägen) zurück und bezeichnet in kunstwissenschaftlicher Perspektive insbesondere mit Blick auf Skulptur und Plastik einen »Ausgleich von Gewichtsverhältnissen des Körpers«, eine »ausgewogene Verteilung der Körperlast auf die tragenden Glieder«.1 Damit sind fundamentale Dimensionen von Körperlichkeit im Raum angesprochen wie Gewicht und Schwerkraft, Masse und Last, Bewegung und Innehalten, Körperkontrolle und Spontaneität, motorische Schemata und Abweichungen. Ihr komplexes Zusammenwirken soll im Rahmen des Projekts in einzelnen detaillierten Objektanalysen als Spannungsverhältnis von (In)Stabilitäten sondiert werden.

So befindet sich beispielsweise in der Sammlung der Kunsthalle Karlsruhe eine Plastik von Michael Witlatschil (geb. 1953) aus dem Jahr 1987, die den Titel Stand trägt.2 Bereits die minimalste Veränderung der kompositorischen Statik stört ihr labiles Gleichgewicht und droht, das gesamte Werk zu zerstören. Witlatschil verhandelt derart in konzentrierter Form bildhauerische Traditionen, die bereits in Leon Battista Albertis (1404-1472) Traktat De Statua schriftlichen Niederschlag gefunden hatten. Die Bezeichnung von Bildwerken als statua, als Standbild, geht dabei von einem aufrechten Körperbild aus, verstanden als grundsätzliche entwicklungsphysiologische Leistung. Dies fand vor allem in der Antike und der Renaissance im ›Kontrapost‹ – der Ausdifferenzierung des Standmotivs in Stand- und Spielbein – als Inbegriff eines ideal ausponderierten Stehens anschaulichen Ausdruck. Dass dieser Aspekt auch in der abstrakten Skulptur des 20. Jahrhunderts für die Künstler*innen zentral blieb, belegt des Weiteren Barnett Newmans (1905-1970) Broken Obelisk – der insofern ein Paradox zu verkörpern scheint, als er den Eindruck einer stabilen Instabilität bzw. einer instabilen Stabilität vermittelt.3

Obgleich sie als ein Kardinalmotiv der Skulptur- und Plastikgeschichte bezeichnet werden können, scheinen (In)Stabilitäten ästhetisch betrachtet in ganz unterschiedlicher Art und Weise stattzufinden, was im Projekt in den Blick genommen werden soll. Da es sich bei der Idee eines von Beherrschung und Vertikalität geprägten Körperbildes um ein dezidiert wertendes Konzept handelt, ist auch mit Blick auf nicht-figürliche Werke zu diskutieren, ob und inwiefern bereits ihre formale Organisation oder ihr spezifisches Display derartige kulturelle Konnotationen aufgreifen, thematisieren und eventuell infrage stellen. Schließlich spielt mit Blick auf den Aspekt der Ponderation die Eigenkörperlichkeit der Betrachter*innen, ihre motorische Responsivität, im Rezeptionsprozess eine besonders ausschlaggebende Rolle. Eine Ausgangsthese des Projekts lautet, dass Stabilität immer nur im Zusammenhang mit Instabilität erfahren werden kann und umgekehrt – und dabei stets Wahrnehmungskonventionen unsere Objekterfahrungen nachhaltig mitstrukturieren.

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1  Stefan Dürre, Seemanns Lexikon der Skulptur. Bildhauer, Epochen, Themen, Techniken, Leipzig 2007, S. 137.

2  Michael Witlatschil, Stand 26-3.1, Kupfer und Glas, 1987, H. 190,5 cm, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle.

3  Barnett Newman, Broken Obelisk, Cortenstahl, 1963-1969, 749,9 x 318,8 x 318,8 cm, New York, Museum of Modern Art.

 

Kontakt

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Forschungsprojekt »Einverleibungen«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2020/21
c/o Kunstgeschichtliches Seminar
Universität Hamburg
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20146 Hamburg