PROJEKT 2019/20 - Einverleibungen – TEILPROJEKTE

»Verschluckt, verdaut, verbüßt? Der Höllenschlund in mittelalterlichen Darstellungen«

In mittelalterlichen Miniaturen, Reliefs und Tafelbildern finden sich Szenen, die den Eingang in die Hölle – das Pendant zur architektonischen Himmelspforte – als geöffneten Schlund eines bedrohlichen Wesens darstellen. Mit weit gespreiztem Kiefer und spitzen Zähnen verleibt sich das meist körperlose Geschöpf die Verdammten ein, die am Tag des Jüngsten Gerichts in sein Maul getrieben, in seinen Rachen gestürzt oder in seinem Schlund von Dämonen malträtiert werden. Auch biblische Quellen, apokryphe Texte und Visionsberichte kennen diesen Schreckensort. Alberich von Settefrati hatte beispielsweise 1130 eine Vision über die Hölle empfangen, von der er ausführt, dass ein unendlich großer, angeketteter Wurm unzählige Verdammte beim Einatmen verschlang und zu Asche verbrannt wieder ausatmete. Dieser Vorgang wiederholte sich so oft, bis die Gläubigen von ihren Sünden gereinigt waren.

Das Projekt widmet sich dem Motiv des Höllenschlundes. Der Kopfbereich des Höllenwesens markiert dabei eine liminale Zone, die in die Hölle führt oder selbst als Läuterungsort fungiert, an dem die Sünder nach ihrem Tod büßen müssen. Ist der Schlund ein Übergang, kann die Öffnung den Gläubigen eine Vorahnung von den folgenden Höllenqualen geben. Der Leib des Geschöpfes und der Ort, an den die Sünder nach dem Überschreiten der Schwelle gelangen, werden in den zu untersuchenden Darstellungen jedoch zumeist nicht gezeigt. Eine Auseinandersetzung mit der Charakterisierung des höllischen Kopfes soll versuchen zu klären, inwiefern die Kreatur im Läuterungsprozess eine aktive oder passive Rolle einnimmt, ob der Prozess des Verschluckens, des Verdauens und des Ausscheidens thematisiert, wie das ungewisse ›Dahinter‹ imaginiert und letztendlich der Zustand des Gläubigen verhandelt wird.

Darüber hinaus sind auch die Kontexte der Darstellungen von Bedeutung: Ist das Motiv selbst vermehrt an Ein- und Übergängen zu finden, und ergibt sich dabei für die Betrachter eine Parallelisierung der Schwelle im Bild zu einer räumlich erfahrbaren Schwelle? Welche Rolle spielen die Betrachtenden und ihre Positionierung zum Bildwerk, wenn diese etwa durch ein Portal schreiten, das von einem Höllenschlund geziert wird, oder durch ein Manuskript blättern, das eine solche Abbildung aufweist? Zu fragen ist dann auch, wie die Sünder in den Motiven als Identifikationsfiguren für die Betrachter charakterisiert sind. Letztlich soll anhand ausgewählter Bilder und Bildwerke untersucht werden, in welcher Form bereits an einem Ein- oder Übergang die multisensorischen Qualitäten des ›Dahinter‹ thematisiert werden und ob es in der Liturgie Entsprechungen zu diesen Eindrücken gibt.

 

Kontakt

Einverleibungen@gmail.com

Forschungsprojekt »Einverleibungen«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2019/20
c/o Kunstgeschichtliches Seminar
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg