Vom Bevölkerungsschutz und der Daseinsvorsorge über den Arten- und Naturschutz, den Schutz von Minderheiten, Kulturgütern und geistigem Eigentum bis hin zu Patent- und Datenschutz: Die krisenbehaftete Gegenwart erfordert die andauernde Entwicklung und Anpassung von Bewältigungsstrategien. Schützen gilt in diesem Zusammenhang als ein vermeintlich erfolgversprechendes gesellschaftliches Konzept, das uns als Individuen, Gruppen oder ganze Gesellschaften in allen Bereichen des täglichen Lebens in unterschiedlichen Formen begegnet. Stets geht diesen Praktiken und Diskursen des Schützens eine Sorge für oder um etwas voraus, die positive Absichten verfolgt und ethisch motiviertes Handeln initiiert. Für etwas Sorge zu tragen ist verbunden mit Vorstellungen von Vulnerabilität in dem Sinne, dass sich starke und schwache Positionen gegenüberstehen. Gleichzeitig ist die Strategie des Schützens aber auch mit Verantwortung und Befähigung verbunden, enthält im Großen wie im Kleinen eine gewisse Handlungsaufforderung – eine Situation der Besorgnis um etwas in eine aktive Sorge für etwas umzuwandeln.
In diesem Spannungsfeld sehr unterschiedlicher Ambitionen und Praktiken des Schützens entstehen nicht selten neue Dynamiken, die das ursprüngliche Schutzvorhaben konterkarieren und, ob intendiert oder nicht, Exklusion, Distinktion und Schaden an anderer Stelle hervorrufen oder befördern. Schützen ist heikel. Schützen kann scheitern. Kurz: Der Akt des Schützens generiert Paradoxien. In diesem Sinne widmet sich die diesjährige Tagung der Isa Lohmann-Siems Stiftung den widersprüchlichen und auch kontraproduktiven Aspekten des Schützens, denn Intention und Ergebnis von Schutzvorhaben stehen nicht zwangsläufig in Einklang miteinander bzw. sind Interpretationssache. Im Kern können positive und zielgerichtete Prozesse mit dem Anliegen zu schützen und zu erhalten auf unvorhergesehene Weise auch etwas anderes bewirken. Was grundsätzlich als schützenswert oder systemrelevant gilt, ist nicht minder umstritten. In den aktuellen Diskursen um Daseinsvorsorge oder Klimaschutz werden häufig paradoxe Ansprüche von Individuen und zivilgesellschaftlichen Gruppen an die Praxis des Schützens deutlich und die Debatten nicht selten polarisiert geführt. Schützen ist in Machtstrukturen eingebunden und wirft Fragen nach Deutungshoheit und Entscheidungsgewalt auf.
Schützen ist daher relational und prozessual zu denken und vom historischen und kulturellen Kontext abhängig. Konzepte des Schützens und ihre Paradoxien stehen im Fokus der kommenden Jahrestagung: Welche Ansprüche stellen unterschiedliche Akteur:innen an das Schützen, und wo tun sich Kontroversen und ungleiche Machtbeziehungen auf? Anhand welcher Medien und Displays, aber auch anhand welcher Ergebnisse lassen sich Schutzparadoxien ablesen und kritisch diskutieren? Welche Paradoxien des Schützens manifestieren sich in der Vergangenheit und Gegenwart, und welche Kontinuitäten oder Brüche lassen sich im Umgang mit Schutzvorhaben diagnostizieren? Welche Narrative von Schutzbedürftigkeit und Schutzverpflichtungen setzen sich durch, welche scheinen im historischen Rückblick problematisch oder gar gefährlich – und welche eröffnen neue Potentiale?
Das diesjährige Projekt der ILS-Stiftung nähert sich der Frage nach Paradoxien des Schützens interdisziplinär aus gegenwartsbezogener und historischer Perspektive. Die vielschichtigen Paradoxien, die mit Formen des Schützens verbunden sind, sollen in ihren sozialen, politischen, rechtlichen, ökonomischen, materiell-technischen, ästhetischen, kulturellen, ökologischen und ethischen Dimensionen und Potentialen diskutiert werden.
Forschungsprojekt »Paradoxien des Schützens«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2023/24
c/o Kunstgeschichtliches Seminar/ Institut für Empirische Kulturwissenschaft
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1 ESA W (Westflügel)
20146 Hamburg
9. und 10.2.2024
Warburg-Haus,
Heilwigstraße 116,
20249 Hamburg
(Hybrid-Veranstaltung)
Dr. Leena Crasemann
»Textile care?« – Verhüllungen von Monumenten im öffentlichen Raum und ihre paradoxalen Sinnstiftungen
Samantha Lutz
»If it’s not online and available, it doesn’t exist!« Über diachrone Unzugänglichkeit und digitale Nachhaltigkeit im Kulturbereich
Theresa Müller
Wie schützt ein Stück Papier vor dem Trommelfeuer? Himmelsbriefe und die Paradoxien religiöser Schutzpraktiken im Ersten Weltkrieg