Isa Lohmann-Siems Stiftung

Isa Lohmann-Siems Stiftung

Aktuelles Projekt

Projekt 2024/25

(un-)ersetzlich. - TEILPROJEKTE -

Im Kleinen ein ganzes Museum. Die Kunstpostkarte als Substitut?

Ramona Berbercuma

Die Postkarte diente bei ihrer Entstehung 1869/70 nur als Medium der Textübermittlung und bestand aus der Mitteilungs- und Adressseite. Doch schon nach kurzer Zeit veränderten sich die Postkarten, es wurde ein Bild auf die Seite gedruckt, auf der sich vorher nur der Sendertext befand. Das Bild nahm immer mehr Platz auf der Mitteilungsseite ein und in den 1890er Jahren wurden dann auch Kunstpostkarten produziert, die als günstiges Produkt einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit gaben, Kunstreproduktionen zu besitzen. Zuvor leisteten sich nur wenige Menschen Kunstreproduktionen in Form von Sammelbildern. Deren Studier- und Sammelaspekt wurde mit der Kunstpostkarte weitergeführt. In dem Teilprojekt werde ich mich auf den Sammelaspekt der Kunstpostkarte konzentrieren, da dieser einen Hauptaspekt beim Kauf und der Nutzung der Kunstpostkarte vor 1950 bildete.

Durch die Verwandlung eines »originalen« Werkes in eine kleine Pappkarte werden unter anderem die Größe und bis in die 1960er Jahre die Farbe (Schwarz-Weiß-Fotografie) und damit auch die Handhabung bei der Betrachtung verändert. Hinzu tritt die Ausschnitthaftigkeit, die aufgrund der Größe oftmals gewählt wird. Die veränderte Betrachtungsweise der Kunstwerke sowie die Spezifika, die eine Kunstpostkarte ausmachen, also die spezifischen Gestaltungskriterien dieses Mediums, stehen im Fokus des Teilprojektes. Hierfür wird auf die Postkartensammlung des Kunsthistorikers Hans Werner Schmidt (1904–1991), die sich heute in der Fotothek der Hertziana in Rom befindet, zurückgegriffen, um eine konkrete Sammelsituation und eine mögliche Nutzung der Postkarten nachzuvollziehen. Die Sammlung enthält Kunstpostkarten zum Oratorio San Giorgio in Padua, das sich als ein Fallbeispiel eignet, weil gerade bei Fresken der Größenunterschied und auch die Ausschnitthaftigkeit in besonderem Ausmaß deutlich werden.

Anhand einer Auswahl von Kunstpostkarten dieser Postkartensammlung soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Welche spezifischen Parameter prägen die Gestaltung einer Postkarte und beeinflussen damit auch die Betrachtung des reproduzierten Kunstwerkes? Wie wird das »Original« (das Kunstwerk) im Substitut (der Kunstpostkarte) ausgehandelt und dargestellt? Welche Veränderungen erfährt das »Original« durch die Reproduktion in Form einer Postkarte? Welche neuen Möglichkeiten bietet die Kunstpostkarte den Nutzer:innen bei der Betrachtung des Kunstwerkes? Kann die Kunstpostkarte durch die neuen Möglichkeiten auch eine eigene Wertigkeit erlangen?

Zeiten der Frömmigkeit: Vom Stundengebet zur Uhrandacht und zurück

Leonid Malec

Zeitordnungen bestimmen den alltäglichen Umgang der Menschen mit Zeit und prägen deren Wahrnehmung von Zeit maßgeblich. Sie gehören zu den Ordnungen, die erlernt sowie durch ständige Repetitionen eingeübt werden, wodurch sie besonders stark in der Tradition von Gesellschaften und von einzelnen Gruppen verankert sind. Deshalb kann die Transformation oder der Ersatz etablierter Zeitordnungen, die im Zuge von technischen Innovationen sowie größeren politischen, gesellschaftlichen und religiösen Umbrüchen initiiert wurden, mit Reibungen und Konflikten einhergehen.

Das Projekt wird sich dem Ersatz von Zeitordnungen exemplarisch widmen, indem es die Entstehung, Verbreitung und den Niedergang der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Praxis der geistlichen Uhrandacht analysiert. Diese Andachtsform ersetzte ab dem 15. Jahrhundert teilweise das erheblich ältere Stundengebet, das am Tag acht Gebetszeiten vorsah. An die Stelle dieser traditionellen Zeitordnung und ihrer unregelmäßigen Struktur setzte die Uhrandacht eine neue Form von Andacht und Gebet, die dem gleichmäßigen Rhythmus der sich im Alltag erst kurz zuvor etablierten Einteilung des Tages in 24 gleich lange Stunden folgte. Die ältesten Medien, die die Uhrandacht popularisierten, griffen dabei das klassische Stundengebet sowohl sprachlich als auch im Aufbau ihrer stündlichen Andachtstexte noch explizit auf und stellten so einen direkten Bezug zwischen dem ›Neuen‹ und dem ›Alten‹ her. Nachdem die mediale Verbreitung der Uhrandacht am Anfang des 16. Jahrhunderts stark zurückgegangen war, erlebte diese Andachtsform im 17. Jahrhundert eine Hochphase, in der sie in bestimmten Gruppen auch losgelöst vom Stundengebet und in Abgrenzung zu diesem praktiziert wurde. Dieser Erfolg der neuen Zeitordnung war zumindest im Kontext der Frömmigkeit jedoch von kurzer Dauer: Ab dem 18. Jahrhundert starb die Uhrandacht mit wenigen Ausnahmen aus, womit eine Periode endete, die durch die Aushandlung verschiedener zeitbezogener Andachtspraktiken gekennzeichnet war.

Somit eignet sich die Uhrandacht ideal, um verschiedene Themenfelder und Logiken von Substitutionen zu analysieren: Dabei geht es um die Frage nach dem Ausmaß der Bezüge zwischen der alten und der neuen Andachtsform, aber auch nach der spezifischen Funktion und dem Mehrwert des Ersatzes. Es wird außerdem zu diskutieren sein, warum die Uhrandacht bei bestimmten Gruppen eine größere Beliebtheit genoss, sich aber gleichzeitig in anderen Kontexten, u. a. im Kloster, letztendlich nicht durchsetzen konnte. Schließlich gilt es nach der Popularität von bestimmten Substitutionen und nach Gründen für ihr Scheitern zu fragen bzw. konkret danach, wieso die Uhrandacht im 16. Jahrhundert zeitweise verschwand und ab dem 18. Jahrhundert gänzlich zu einem Nischenphänomen wurde. Welche Rolle haben die Macht der Gewohnheit und der Tradition in diesem Prozess gespielt und welche – äußeren – Faktoren führten zum Scheitern des Ersatzes wie beispielsweise die Etablierung des Lebens nach der Uhr in weiten Teilen der Gesellschaft? Anhand der Uhrandacht kann gezeigt werden, dass der Erfolg oder Misserfolg von Substitutionen häufig von vielfältigen Faktoren abhängt. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Etablierung des ›Neuen‹ selten geradlinig verläuft sowie dass die Antwort auf die Frage, was als (un-)ersetzlich gilt, je nach Gruppe und Zeit unterschiedlich ausfällt.

»… das Adoptivkind darf niemals ein Ersatz sein«. Substitution als umkämpftes Konzept in Adoptionskontexten

Laura Völz

Wenn ein Kind zur Adoption freigegeben wird, steht die Frage im Raum, wie und wo dieses Kind zukünftig aufwächst und wer als Erziehungsberechtigte oder als Elternersatz in sein Leben treten werden. In Deutschland wird diese Entscheidung vom Jugendamt bzw. kirchlichen und freien Trägern mit staatlicher Anerkennung getroffen und bürokratisch begleitet.

Spätestens seit den 2000er Jahren sind die Adoptionszahlen in Deutschland – sowohl für Auslands- als auch für Inlandsadoptionen – rückläufig, da aufgrund der Vielzahl von Hilfsangeboten für ungewollt Schwangere in Notlagen weniger Kinder zur Adoption freigegeben werden. Zudem werden internationale Adoptionen u.a. durch das Haager Abkommen stärker reguliert, um Formen des Kinderhandels zu erschweren. Damit ist ein Missverhältnis zwischen einer höheren Zahl an Adoptionswilligen und der geringeren Zahl an vermittelbaren Kindern entstanden. Die zuständigen, lokal agierenden Jugendämter folgen einerseits dem Anspruch, von Amts wegen »gute« Eltern für das Kind auszuwählen. Andererseits sind sie angesichts der steigenden Anzahl von Bewerber:innen mit der Situation konfrontiert, Kriterien und Strategien entwickeln zu müssen, um die passenden Personen aus diesem großen Bewerber:innenfeld auswählen zu können.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass die Jugendämter nicht mehr von einer allgemeinen und grundlegenden Befähigung oder Berechtigung zur Elternschaft ausgehen. Wenn eine Familiengründung über Adoption angestrebt wird, werden die Bewerber:innen deshalb verstärkt auf ihre »Eignung« geprüft – eine Praktik mit dem Potenzial der Reibung und des Konflikts. Kriterien der Prüfung sind u.a. ihre Beziehung(en), ihre Lebensziele, Erziehungsvorstellungen und ihre gesundheitliche Verfassung. Dazu gehört auch die Frage, ob und wie sie sich ein Adoptivkind ausmalen und wünschen. Zudem wird thematisiert und dokumentiert, unter welchen Umständen sie das ihnen zur Adoption vorgeschlagene Kind ablehnen würden. Um als Ersatzfamilie in Frage zu kommen, müssen die Bewerber:innen bestimmte Fähigkeiten unter Beweis stellen. Vor allem müssen sie überzeugend darlegen, dass das Adoptivkind gerade nicht als Ersatz für das eigene, leibliche Kind fungiert, das zwar gewünscht wurde, das aber nie auf die Welt gekommen ist. Eine solche Haltung wird von den Jugendämtern offensichtlich als problematisch und gefährlich eingeordnet. Die Einordnung als Ersatz wird als Entwertung wahrgenommen.

Schaut man sich diese Bedingungen einer Adoption näher an, dann stellt sich die Frage, wie die Eignungsprüfung von den Bewerber:innen als Akteur:innen erlebt wird und welche Strategien sie verfolgen, um von sich zu überzeugen und den Adoptionsprozess zu navigieren. Jenseits dessen aber ist in historischer Perspektive zu fragen, inwieweit Veränderungen in der Bewertung von Ersatz im Gesamtkontext Adoption feststellbar sind und wie sich ethische Grenzziehungen im Lauf der Jahre verschoben haben. Auch ist hier eine gewisse Asymmetrie erkennbar: So wird das adoptierte Kind nicht darauf hingewiesen, dass die Adoptiveltern kein Ersatz für die leiblichen Eltern sein dürfen.

Wer darf und kann in einer Familie ersetzt werden, und wie wird hierbei an Vorstellungen und Narrative von »natürlicher« und »künstlicher« Familie angeknüpft bzw. wie werden diese beiden Dimensionen miteinander ins Verhältnis gesetzt? Wer entscheidet über familiäre Konstellationen, und an welche (historisch veränderlichen) gesellschaftlichen Ideale sind diese gebunden? Wie sieht das Bild einer »sicheren« Familie aus, und welche Auswahlkriterien sollen diesen Entwurf absichern? Seit wann ist der Topos vom »vulnerablen und schützenswerten Kind« im Adoptionsprozess relevant, woher stammt er und wie tritt er mit dem Konzept des Ersatzes in Konflikt?