Ersatzpraktiken und -prozesse laufen im Alltag häufig reibungslos ab, wenn der Ersatz als besser, gleichwertig oder zumindest notwendig empfunden wird (Reifen- und Batteriewechsel, Ersatzbrille etc.). Konfliktreicher verläuft der Ersatz hingegen dann, wenn es sich um eine Substitution handelt. Diese spezifische Form des Ersatzes findet häufig im Rahmen von technischen Innovationen statt oder reagiert auf Mangel, unerfüllte sowie unerfüllbare Wünsche, neue Lebenskonzepte und Ideale des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kennzeichen der Substitution ist dabei, dass der Ersatz wesentlich anders ist als dasjenige, das es zu ersetzen gilt. Gerade das kann dazu führen, dass das Substitut nicht als gleichwertig wahrgenommen wird. Debatten um Substitutionen werden deshalb häufig von Fortschritts- und Verlustnarrativen sowie Fragen über das Verhältnis von ›Original‹ und ›Kopie‹ geprägt. Substitutionen bieten somit nicht nur Potenziale, sondern erzeugen auch Widerstände und sind Grundlagen für Konflikte, bei denen Positionierungen eingefordert werden.
Wie selten zuvor stellen aktuelle Transformationsbedarfe die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft im Alltag permanent vor die Aufgabe, Praktiken und Normen zu überdenken und im Idealfall Lösungen zu finden, an deren Ende unter Umständen ein Verzicht oder ein adäquates Substitut steht. Die Themenfelder reichen von veganen oder umweltfreundlichen Ersatzprodukten über Fragen der Mobilität bis zu einem Umbau der Energiewirtschaft. Deshalb ist es jetzt von besonderer Relevanz, sich damit zu beschäftigen, wie Substitutionen ablaufen und welchen Regeln sie folgen. Denn deren Forderungen und Realisierungen sind in Machtdynamiken eingebunden, die konträre Positionen erzeugen können: auf der einen Seite diejenigen, die profitieren, und auf der anderen Seite diejenigen, die mit ihren Anliegen scheitern. Dieses Konfliktpotenzial führt dazu, dass die Substitute und ihr Einsatz in der Regel ästhetisch und narrativ gerahmt werden, um Reibung zu verringern und das Substitut aufzuwerten sowie zum neuen Normal zu machen. Beispiele dafür wären die Margarine, die Gelb gefärbt wird, um visuell an Butter zu erinnern, oder Werbekampagnen, die einzelne Substitute als Innovation anpreisen. Insbesondere das letztgenannte Narrativ gilt es zu hinterfragen, da Ersatz auch von Anachronismen und Retardierungen geprägt sein kann. Er geht nämlich nicht zwangsläufig mit Optimierungen einher und seine Einführung verläuft selten geradlinig. Gleichzeitig können Substitute aber auch nach ihrer Etablierung das Potenzial für weiteren Wandel enthalten.
Praktiken der Substitution werfen auch immer Fragen nach Kriterien für einen ›guten‹ Ersatz auf und berühren sowie verhandeln dabei Ethiken des Ersetzens. In diesem Kontext lassen sich immer wieder konkurrierende Auf- und Entwertungen des Substituts beobachten. Substitution geht deshalb auch mit Praktiken des Vergleichens einher, indem ›Alt‹ und ›Neu‹ gegeneinander abgewogen werden, wobei ein Spannungsfeld entsteht, in dem um Deutungshoheit gerungen wird: Diese Aushandlungen gilt es im Rahmen der Tagung zu analysieren und dabei auch die Rolle der Wissenschaft und der Politik sowie deren Verhältnis zu verschiedenen Interessensgruppen in den Blick zu rücken. Wer gilt als verantwortlich, um Ersatz zu finden und diesen gegebenenfalls zu legitimieren? Wer kommt zu Wort, wer sind Expert:innen, wer wählt diese aus und wer wird innerhalb von Wissenshierarchien nicht gehört? Schaden oder nützen bestimmte Substitutionen einzelnen Gruppen besonders stark und unter welchen Voraussetzungen darf das in Kauf genommen werden?
Die Tagung (un-)ersetzlich. Praktiken, Normen und ästhetische Rahmungen der Substitution wird den Logiken von Substitutionen nachspüren, indem einzelne Prozesse auf der Mikroebene untersucht und auf ihr Potenzial für eine generelle Theoretisierung des Substituts befragt werden. Wann wird der Ersatz sehnsüchtig gewünscht oder lautstark eingefordert und wann wird er als undenkbar sowie gefährlich abgelehnt? Wer schlägt Ersatz vor und wie wird hierbei argumentiert, wer kann ihn durchsetzen und wer evaluiert diesen? Welche Bedeutung haben ästhetische und narrative Rahmungen? Was steigert oder mindert die Akzeptanz von Substituten? Welche Rolle spielen Emotionen, ästhetische Konventionen und eingeübte Praktiken im Substitutionsprozess? Nach welchen Vorstellungen und Kriterien werden Dinge durch andere substituiert und wann gelten diese als (un-)ersetzlich?
Forschungsprojekt »(un-)ersetzlich« der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2024/25
c/o Kunstgeschichtliches Seminar / Institut für Empirische Kulturwissenschaft
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg
07.–08.02.2025
Warburg-Haus,
Heilwigstr. 116,
20249 Hamburg
(Hybrid-Veranstaltung)
| Tagungsflyer |
Ramona Berbercuma
Im Kleinen ein ganzes Museum. Die Kunstpostkarte als Substitut?
Leonid Malec
Zeiten der Frömmigkeit: Vom Stundengebet zur Uhrandacht und zurück
Laura Völz
»… das Adoptivkind darf niemals ein Ersatz sein«. Substitution als umkämpftes Konzept in Adoptionskontexten