Das Phänomen der Einverleibung ist allgegenwärtig: Ob real in Form von Nahrungsmitteln, ob symbolisch in Form von Bücherwissen und Bilderwelten, ob gewaltsam und räuberisch, wenn es um territoriale Übernahmen und Annexionen geht, oder bedrohlich, wenn der Körper mit den Nahrungsmitteln zugleich Mikroplastik einverleibt. Allen diesen Vorgängen ist gemeinsam, dass im Moment der Einverleibung ein Erstes in ein Zweites aufgenommen wird. Meist handelt es sich dabei um einen stetig fortlaufenden Prozess mit transformativem Potential, der unvermittelt beginnt und dem kein Diskurs vorangeht. Die Einverleibung ist generell weder verhandel- noch anfechtbar, dafür aber häufig illegitim und gewaltvoll. Die hierin aufscheinende Asymmetrie, das hegemoniale Ungleichgewicht, das ihr eingeschrieben ist, stellt ein Grundaxiom der Einverleibung dar. Diese Machtverhältnisse können sich jedoch auch umkehren, das Einverleibte kann sich zur Wehr setzen.
Wo derartige Prozesse der Einverleibung stattfinden, wann sie beginnen, wo sie hinführen und was am Ende bestehen bleibt, inwiefern ein Fremdes immer zum Eigenen wird oder die Einverleibung auch ein Drittes produziert – Fragen dieser Art sollen im Rahmen der kommenden Tagung der Isa Lohmann-Siems Stiftung an verschiedenen Beispielen ausgelotet werden. Ziel ist es, nach Schnittstellen von u.a. körperlichen, politischen oder religiösen Prozessen der Einverleibung zu fragen.
Ein Ansatzpunkt ist dabei die Tatsache, dass der ›Leib‹ im Begriff der ›Einverleibung‹ immer schon mitgedacht wird. Der Bezug zum Körper liegt somit nahe. Zu fragen ist dann, welche Organe neben dem Magen Orte der Aufnahme und Transformation bilden können. Wie ist die Einverleibung von Bildern und Büchern zu denken? Wie spielt das Konzept der Einverleibung bei technischen Erweiterungen eine Rolle? Welche Bedeutung haben emotionales und geistiges Kauen, Schlucken, Verdauen oder eben Nicht-Verdauen während der Einverleibung? Wie können Rituale oder Übergänge im Rahmen des gemeinsamen (Fest-)Essens gesellschaftliche Strukturen versinnbildlichen und nachhaltig prägen?
Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, die die Metapher der Einverleibung eröffnet, wenn sie für immaterielle Vorgänge steht – beispielsweise im politischen, wirtschaftlichen oder juristischen Bereich. Welchen Mehrwert birgt die Denkfigur der Einverleibung, den synonym verwendete Begriffe wie die Auf- oder Übernahme, Aneignung oder Annektierung nicht leisten können? Welche Bilder ruft der Begriff der Einverleibung beim Rezipienten auf? Inwiefern verhandelt die Metapher durch ihre Assoziation mit dem weniger noblen Ort des Gastrointestinaltraktes geistige Prozesse auf einer materiell-körperlichen Ebene? Und wie kann das Vorstellungsbild der Einverleibung schließlich in künstlerischen Schaffensprozessen produktiv gemacht werden?
Im Rahmen des Jahresprojektes soll die Einverleibung vom Mittelalter bis zur Gegenwart in verschiedenen Medien, Ausformungen und Praktiken betrachtet werden. Die drei Fallstudien beschäftigen sich hierbei mit Imaginationen des Höllenschlundes, mit Bildern, die gegessen wurden, und mit filmischen Repräsentationen des familiären Essens.
Forschungsprojekt »Einverleibungen«
der Isa Lohmann-Siems Stiftung 2019/2020
c/o Kunstgeschichtliches Seminar
Universität Hamburg
Edmund-Siemers-Allee 1
20146 Hamburg
Faline Eberling
Verschluckt, verdaut, verbüßt? Der Höllenschlund in mittelalterlichen Darstellungen
Eva Paetzold
FamilienFilmEssen: Zu familiären Nahrungs- und Filmaufnahmen
Maria Schaller
Bilder essen? Einverleibte Schluckbildchen und Schabfiguren
Faline Eberling, Eva Paetzold, Maria Schaller (Hg.):
Einverleibungen.
Imaginationen – Praktiken – Machtbeziehungen
Dietrich Reimer Verlag 2021
Schriftenreihe der Isa Lohmann-Siems Stiftung, Band 14
256 S. m. 7 Farb- und 47 s-w-Abb., 17 x 24 cm, gebunden