PROJEKT 2005/06 – »Inszenierungen der Küste« – TEILPROJEKTE

»Das Meer und der Tod – Über die kulturelle Kodierung der norddeutschen Küstenlandschaft«

Norbert Fischer

Im Mittelpunkt der Studie des Sozialhistorikers Norbert Fischer stehen Materialisierungen historischer Erfahrungen. Er erforscht unter dem Arbeitstitel »Das Meer und der Tod – Über Gedächtnislandschaften an der Nordsee«, auf welche Weise sich die Erfahrung der gefahrvollen, todbringenden Nordsee in den Küsten- und Inselgesellschaften vollzog und in der Landschaft niederschlug. Dies wird vor allem auf drei Ebenen untersucht: 1.) Maritime Memorials und Erinnerungstafeln, 2.) Grabsteine, 3.) Namenlosen-Friedhöfe. Diese Objekte tradieren die Erfahrungsmuster partikularer Küsten- und Inselgesellschaften, deren Entwicklung auf der Auseinandersetzung mit dem Meer und seinen Gefahren basiert. Dabei bilden die genannten Phänomene zugleich Indizien für den im 19. Jahrhundert einsetzenden Mentalitätswandel und der damit verbundenen »Mythologisierung« des Todes im und am Meer.

Bemerkenswerterweise geschah dies in jenen Epochen, in denen einerseits das tatsächliche Gefahrenpotential der Nordsee entscheidend verringert werden konnte (Ausbau des Seenotrettungs- und Seezeichenwesen, Verbesserung der Deiche u. ä.), andererseits die Küsten- und Inselgesellschaften raschen Veränderungen unterlagen (Seebäderwesen). Die Anlage der Namenlosen-Friedhöfe für unbekannte Strandleichen beispielsweise ist Zeichen eines gewandelten Umgangs mit den Toten – ein Wandel, der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzog, als die zuvor mehr oder weniger eigenständigen Küsten- und Inselgesellschaften von städtisch-bürgerlichen Leitbildern beeinflusst und überformt wurden. Der Rückgriff auf die historische Erfahrung der todbringenden See, den die Anlage der Namenlosen-Friedhöfe bildete, diente dem Zweck, auf symbolischer Ebene das besondere »Regionalbewusstsein« und die im Zeitalter der Moderne fragil gewordene regionale Identität der Küstengesellschaften zu stabilisieren. Als regelrechtes Identitätsmarketing können die an die »Auf See Gebliebenen« erinnernden maritimen Memorials interpretiert werden. In der Epoche des Massentourismus – bisweilen erst in jüngster Zeit – errichtet und die Insignien bürgerlicher Trauerkultur aufgreifend, wird für ein fremdes Publikum der Mythos vom todbringenden Meer inszeniert. Namenlosen-Friedhöfe wie maritime Memorials und Grabsteine bilden damit grundlegende Elemente der kulturellen Kodierung der Küstenlandschaft.